Das Licht des Absoluten – Wahrheit im Zen

Eine alte buddhistische Erzählung besagt, dass, wenn es einen unendlich tiefen und großen Ozean gäbe, auf dessen Oberfläche ein Brett schwimmen würde, und das Brett mit einem Loch versehen wäre und in diesem Ozean eine einsame Schildkröte leben würde, die alle zehntausend Jahre zur Oberfläche kommt, um Luft zu holen, die Wahrscheinlichkeit, dass die Schildkröte je den Kopf durch die Öffnung des Brettes steckt, höher ist, als dass ein Wesen als Mensch geboren wird. Als Mensch geboren zu werden grenzt also an ein Wunder. Ein Wunder aus Lebenskraft, entstanden aus dem unendlichen Netz von Ursache und Wirkung, welches bis in die kleinste Zelle unseres Körpers eindringt, all unsere Gedanken und Emotionen durchströmt und Teil der universellen Bewegung ist. Eine Bewegung, die auch dann einem Wunder gleich­kommt, wenn wir berücksichtigen, wie viele Umstände gleichzeitig gegeben sein müssen, damit das Leben auf diesem Planeten möglich ist. Eine universelle Bewegung, die in Form der Atmung in jedem Augenblick unserer Existenz so präsent wie das Leben selbst ist. Eine Bewegung, die, wenn wir sie wahrnehmen, wie ein Licht für unsere ­Existenz sein kann, weil der universellen Bewegung gewahr zu sein eine Quelle von innerem Frieden und Glück ist.

Das Licht des Absoluten. Ein Licht, das Klarheit in unser Leben bringt, indem es die universelle Bewegung offenbart und uns alle Phänomene als Teil der universellen Bewegung wahrnehmen lässt. Ein Licht, das uns zeigt, dass unser Körper und unser Geist sich in der ganzen Welt offenbaren, gleichzeitig aber auch, dass wir weder dieser Körper noch nur der Geist sind. Ein Licht, das uns zeigt, dass nicht einmal unser Körper uns gehört und dass der reine Geist nie still steht, denn er kommt und geht Augenblick für Augenblick. Das Licht des Absoluten ist also das, was unserer Praxis die Richtung weist. Unser Polarstern, wenn wir nicht mehr wissen, wohin, und uns verloren glauben in Kummer und Leid, weil wir uns als von der universellen Bewegung getrennte Wesen wahrnehmen. Wenn wir ein Leben führen, als würden wir niemals sterben, oder wenn wir das Altern als unattraktiv erachten und aus dem Tod ein Tabu machen, weil wir im Grunde glauben, dass mit dem Tod alles stirbt.
So erklärt sich vielleicht, von welcher Bedeutung Zazen für das buddhistische religiöse Leben ist. Denn Zazen erlaubt uns, vor das Absolute zu treten, damit sein Licht unser Leben erhellt. Auf die Atmung, die Haltung des Körpers und die Geisteshaltung konzentriert lassen wir jeden Halt los. Jede persönliche Kategorie. Auch jede Bestrebung nach Erleuchtung. Und erlauben auf diese Weise, dass sich die universelle Bewegung in uns ungehindert manifestiert, indem der Einatmung nur noch die Ausatmung folgt. Auf diese Weise, manchmal, natürlich und von selbst machen die Wolken der mentalen Aktivität dem Licht des Absoluten Platz und dieses bringt Klarheit in die Landschaft unseres Seins. Das sind Augenblicke, in denen wir klar erkennen, was an welchem Platz in unserem Inneren steht, was notwendig ist und was schädlich für uns und die anderen ist. Augenblicke, in denen das Zurückgreifen auf die Moral absolut entbehrlich ist, weil die Erkenntnis, dass die universelle Bewegung weder Anfang noch Ende kennt, sondern kontinuierlicher Wandel ist, sich auf jeden Gedanken, jedes Wort und jede Handlung auswirkt.

Vielleicht erklärt sich so die Tatsache, dass im Zen-Buddhismus unsere Vergänglichkeit als ein großer Lehrmeister angesehen wird. Ein Meister, der uns daran erinnert, dass wir von unseren Vorfahren dieses Leben geerbt haben und dass wir es wiederum durch unsere Kinder und deren Kinder an unzählige andere Menschen weitergeben werden. Und ein Meister, der uns lehrt, dass unser Leben sich nicht vermessen lässt, denn das, was wir Zeit nennen und was einen Anfang und ein Ende kennt, ist eher ein Sein als Zeit. Ein Sein, das nur in diesem Augenblick hier und jetzt wirklich ist. Ein Sein, das weder bewusst noch unbewusst ist, weil es nicht abhängig von unserer persönlichen Anschauung ist.
Jenseits also von Fragen, ob es den Himmel und die Hölle gibt, unabhängig davon, ob wir wiedergeboren werden oder zurückkehren zur Quelle, wo wir hergekommen sind, oder glauben, dass mit unserem Tod alles stirbt, wir sind immer ein ungetrennter Teil der universellen Aktivität. Die Beobachtung des allgegenwärtigen Wandels ist also der direkteste Weg, damit das Licht des Absoluten unser Leben erhellt. Es bliebe nur noch zu klären, was das Licht des Absoluten ist und was es nicht ist. Ist es ein Licht, das im Gegensatz zur Dunkelheit steht, oder ist es ein Licht, das erscheinen kann, weil es die Dunkelheit gibt? Wir erkennen so, dass es oftmals die Sprache ist, die uns hindert, die Wahrheit unserer Existenz zu erkennen. Wir bilden Begriffe und Kategorien, die auf der Konstruktion von Gegensätzen basieren, und verzerren damit die Wirklichkeit. Wir sagen Licht, verbinden damit das Gute, weil es uns die Wahrheit über unsere Existenz demonstriert, und bilden sofort den Gegenpol zur Dunkelheit und setzen voraus, die Dunkelheit sei schlecht, weil wir mit ihr Täuschung und Unwissenheit assoziieren. Aber was wäre das Licht ohne die Dunkelheit? Was wäre die Wahrheit ohne die Täuschung? Gäbe es das Leben ohne den Tod? Fragen, die von selbst erklären, dass zu glauben, zu sprechen und zu handeln, als gäbe es eine unabhängige Existenz, wirkliche Täuschung ist.
Bedeutet es aber andererseits, dass, weil es keine unabhängige Existenz gibt, dass das Licht und die Dunkelheit, die Wahrheit und die Täuschung, das Leben und der Tod, eins sind? Wie wir alle wissen, ist das Licht hell und die Dunkelheit dunkel, doch sie sind keine Gegensätze, sondern bedingen einander und haben innerhalb der universellen Aktivität ihren eigenen Platz. Ähnlich verhält es sich mit sämtlicher Polarität: Alle Phänomene bedingen einander, stehen in einem Verhältnis gegenseitiger Abhängigkeit zueinander, und in einem Prozess des kontinuierlichen Wandelns folgen sie der universellen Aktivität. Eine Aktivität, die der Ozean des absoluten Lichts selbst ist und in der niemand sagen kann, was kommt oder was geht, weil alles sich bewegt und doch seinen eigenen Platz hat. Ein unendlich großer und tiefer Ozean, an dessen Oberfläche gerade jetzt eine einsame Schildkröte, die nach zehntausend Jahren des Lebens unter dem ­Wasser an die Oberfläche des Ozeans kommt, um Luft zu holen, ihren Kopf durch die Öffnung eines Brettes steckt.

Eine Wahrheit, die unfassbar ist, weil es die ­Eigenschaft der Wahrheit ist, dass sie unfassbar ist.

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