Achtsamkeit im Alltag leben

Nicht selten höre ich aus dem Mund schwer­kranker Menschen, dass sie doch eigentlich ­geplant hatten, jetzt mit dem Leben anzufangen. Zu reisen. Sich aufs Land zurückzuziehen. Sich mehr um den Partner zu kümmern. Zeit mit den Enkeln zu verbringen. Sich einem Hobby zuzuwenden. Endlich alle Geheimnisse der asiatischen Küche zu entdecken.
Wir alle möchten unser Leben so vollständig und gut wie möglich leben. Wie gelingt es uns, das in den Alltag zu bringen? Indem wir dort sind, wo das Leben stattfindet, nämlich genau hier – im Jetzt. Und wie schaffen wir es, das Jetzt wahrzunehmen, im Jetzt anzukommen und dort auch zu bleiben? Wie werden wir uns selbst gewahr? Wie gelingt es uns dann, mehr Gelassenheit zu entwickeln? Wie nutzen wir unsere Emotionen sinnvoll? Über eine Emotion können wir die Realität nicht mehr so wahrnehmen, wie sie tatsächlich ist. Mit einem Tunnelblick sieht man nur einen kleinen Ausschnitt der Wirklichkeit. Achtsamkeit bedarf der Übung. Wer sie pflegt, lernt sich selbst besser zu beobachten ohne zu werten und zu urteilen.

Wenn wir uns in Achtsamkeit üben, kultivieren wir Klarheit, Konzentration und Gelassenheit. Wir versuchen, uns und die Welt immer mehr so wahrzunehmen, wie sie ist. Gleichmut hilft uns, gelassener zu werden und allem mit einem warmen, mitfühlenden Herzen zu begegnen. Die Wahrnehmung von Außenwelt und Mitmenschen bekommt eine neue Frische, wir sind nicht mehr nur Opfer unserer Muster und Konzepte. Wir bringen allen Menschen Wertschätzung entgegen und dehnen diese auf Tiere, unsere Nahrung, unsere unmittelbare Umwelt, den Planeten und das gesamte Universum aus. Wir sind uns bewusst, dass wir nicht unabhängig existieren. Wir sind verbunden mit allen und allem.

Achtsamkeit strebt nichts an, sie sieht einfach, was bereits da ist. Achtsam zu sein bedeutet, wach und aufmerksam zu sein, weder schläfrig zu werden, noch sich von seinen Gedanken mitreißen zu lassen. Wir wissen, was wir tun, sagen, fühlen, denken, wenn wir achtsam sind. Die Realität immer mehr so wahrzunehmen, wie sie ist, verstärkt unser Einfühlungsvermögen. Regelmäßige formelle Meditationspraxis auf ein inneres Objekt (wie z. B. den Atem) hilft uns, den Geist zur Ruhe zu bringen und uns gewahr zu werden. Gedanken sind Bewegungen des Geistes. Wenn wir nicht nach ihnen greifen und aus ihnen Gedankenketten formen, dann werden sie uns nicht forttragen aus der direkten Erfahrung. Wenn wir Achtsamkeit im Alltag üben und nicht nach allem greifen, was wir haben wollen (Glück), und alles ablehnen, was uns nicht gefällt (Leid), werden wir auf unsere Emotionen und Gefühle nicht länger wie ferngesteuert reagieren. Auch Emotionen sind Ausdruck eines Geisteszustands, wir erfahren ihn mit Achtsamkeit, werten nicht und gehen nicht in die Handlung. Das braucht Disziplin und Übung. Wenn wir dabei bleiben, kultivieren wir Mitgefühl, unsentimental uns selbst und den anderen gegenüber. Wir müssen in das direkte Erleben gehen. So erfahren wir das Leben voll und nicht nur einen fremd gefärbten Ausschnitt der Wirklichkeit.

Wir gehen raus aus allem Komplizierten und rein in die Einfachheit. Es geht uns nur um die „reine“ Erfahrung. Wenn wir uns beobachten, dann kreisen unsere Gedanken immer um irgendein Thema aus der Vergangenheit oder der Zukunft. Wir gehen in unserer Gedankenwelt oft ziel- und orientierungslos kreuz und quer spazieren und denken z. B. über den vergangenen Arbeitstag nach. So verpassen wir die Chance, das Leben ganz zu erfahren, die Frühlingsblumen zu sehen, die am Wegrand blühen, den Vogelgesang in unser Herz aufzunehmen, die wärmenden Sonnenstrahlen auf der Haut zu spüren und uns so vom Wesen der Natur in unserem Innersten berühren zu lassen. Verlieren wir uns also nicht im „Film“ unserer Vergangenheit und unserer Geschichte.

Es ist wichtig, dass wir uns grundsätzlich so annehmen, wie wir sind. Dann geht es darum, weder Erfahrungen zu vermeiden, noch sie festzuhalten. Wir können uns allem stellen, was im Geist auftaucht. Über die Achtsamkeit kommen wir an die Intuition und an unser Potenzial heran. Der erste Gedanke ist oft der beste Gedanke. Konzeptgebundenes Nachdenken und analysieren ist das Gegenteil von Intuition, es hindert uns daran, in Kontakt mit der „nackten“ Erfahrung zu kommen und konstruktiv damit umzugehen. Im Jetzt ist der Schlüssel für die Vergangenheit und für die Zukunft. Wir bestimmen unsere Zukunft indem wir das Jetzt erleben und gestalten. Wenn wir wirklich präsent und achtsam sind, verlieren wir keine Kraft, wir gewinnen sie. Spazieren-Gehen im wörtlichen Sinne, nämlich den Körper zu bewegen, kann eine Art Energiequelle sein, die uns zur Ruhe kommen lässt und uns für den Alltag stärkt. Wir können uns dabei abwechselnd auf das Gehen und das Wahrnehmen der Natur konzentrieren. Wir setzen jeden Schritt ganz bewusst und sind so vollkommen bei der Sache. Dann wieder betrachten wir, was um uns herum vorgeht, ohne zu werten und zu urteilen. Dann können wir innehalten und unseren Atem spüren. Wir lassen die Erscheinungen der Natur auf uns wirken und es ist uns bewusst, dass auch wir Teil dieser Natur sind.

Oft essen wir eine wunderbare Mahlzeit und hören nebenbei Nachrichten, telefonieren oder lesen Zeitung. Wir sind vernetzt mit allem, außer mit uns selbst! So bringen wir uns auch um den kompletten Genuss dieser köstlichen, für uns zubereiteten Speise. Es geht darum, dass wir voll und ganz das erleben, was wir gerade tun. Achtsamkeit können wir üben, indem wir mit unserer gesamten Konzentration beim Essen sind. Wir betrachten das Gericht, nehmen bewusst das Besteck, sind ganz aufmerksam beim Zerteilen der Speisen. Wir sind uns bewusst, dass wir die Nahrung auf die Gabel nehmen und in den Mund schieben, wir haben vorher den Duft aufgenommen und registrieren das Wasser, das uns im Mund zusammen läuft und achten beim Kauen auf die unterschiedlichen Geschmacksempfindungen. Wir werden feststellen, dass wir schneller satt werden und dass wir die so zu uns genommenen Speisen erst besser kennen lernen und dann auch besser verdauen.

Manchmal sind wir stolz darauf, viele Dinge gleichzeitig tun zu können. In Wirklichkeit ist das ganz und gar kontraproduktiv, verursacht Stress und führt zu körperlicher, emotionaler und geistiger Erschöpfung. Außerdem ist es respektlos anderen und uns selbst gegenüber, wenn wir während eines Telefonats gleichzeitig E-Mails lesen oder am PC arbeiten. Üben wir uns darin, nicht Sklaven der Technik zu sein, sondern nutzen wir sie zu unserem Vorteil. Wir können Achtsamkeit üben, indem wir nicht sofort auf das Klingeln des Telefons reagieren. Wir halten erst einmal inne und wenden uns bewusst von der bisherigen Tätigkeit ab. Dann nehmen wir drei kurze Atem­züge und kommen zur Ruhe. Dann erst nehmen wir das Gespräch entgegen und schicken uns und dem Anrufer ein Lächeln. Ganz bestimmt wirkt sich das positiv auf alle Beteiligten aus.

„Wenn du es eilig hast, dann gehe langsam“ lautet ein Sprichwort aus dem Zen-Buddhismus. Es gibt in unserem Leben oft Situationen, die wir nicht ändern können. Aber Achtsamkeit kann man in allen Lebenslagen trainieren. Wir können uns ärgern, wenn wir auf den Bus warten müssen oder wenn uns die Straßenbahn davon gefahren ist. Wir können aber auch die Gelegenheit nutzen, um bewusst Bodenkontakt aufzunehmen und uns gut zu erden. Dann richten wir die Aufmerksamkeit auf den Atem, ohne ihn zu manipulieren.
Selbstverständlich können wir auch achtsames Gehen in allen Lebenslagen üben. Langsam, wenn wir mehr Zeit und einen ruhigen Ort dafür haben. Im Alltag können wir aber immer wieder bestimmte Strecken bewusst gehen. Niemand muss bemerken, dass wir eine Übung machen. Wir gehen einfach etwas langsamer als sonst und konzentrieren uns währenddessen nur auf das Gehen. Anfangs ist es hilfreich, sich eine bestimmte Strecke dafür zu wählen, so ist es leichter, daran zu denken.

Nutzen wir Alltagstätigkeiten, die wir als monoton erleben, um Achtsamkeit zu üben. Wer denkt nicht an alle möglichen Dinge, während sie oder er kocht, staubsaugt, bügelt, abwäscht oder Auto fährt. Wir sollten versuchen, diesen Tätigkeiten einen anderen Stellenwert zu geben, indem wir sie ganz bewusst erleben. Wir machen diese Arbeit ohne Widerwillen oder mit der Einstellung, dass sie so schnell wie möglich fertig sein sollte. Wir üben uns darin, nicht zu bewerten, was eine anspruchsvolle und was eine niedrige Tätigkeit ist. „Wenn ich gehe, gehe ich. Wenn ich sitze, sitze ich. Wenn ich esse, esse ich …“ lautet ein anderes Sprichwort aus dem Zen-Buddhismus.

Mit derselben Haltung können wir morgens oder abends duschen, unsere Haut pflegen oder Zähne putzen. Anstatt allen möglichen Gedanken nachzuhängen, nehmen wir mit unserer ganzen Aufmerksamkeit wahr, wie sich das Wasser auf unserer Haut anfühlt, wo uns die Wärme besonders wohl tut, wie sich der Körper während dem Abtrocknen anfühlt usw.

Heute ist der erste Tag vom Rest meines Lebens. Wir werden ihn wertschätzen, wenn wir ihm achtsam begegnen. Dann erübrigt sich die Frage, was wir mit ihm anfangen sollen. (Text erschienen im Jahresreport des Mobilen Hospiz 2011)

Sind wir uns der Vergänglichkeit
unseres Lebens bewusst,
wird das Leben umso wertvoller:
der Sonnenuntergang in seiner Farbenpracht
der Ahornbaum im Herbst,
der Blick eines geliebten Menschen.

Es gibt nur eine Welt, die Welt, die dich in
diesem Augenblick umgibt. Es gibt nur einen
Augenblick, den Augenblick, den du jetzt
erfährst. Die einzige Möglichkeit, am Leben
teilzuhaben, besteht darin, jeden Augenblick als
unwiederholbares Wunder anzunehmen.

Storm Jameson

Das Leben im Hier und Jetzt erfordert Übung:
Damit man nicht mehr sieht, als es zu sehen gibt,
nicht mehr hört, als es zu hören gibt,
nicht mehr empfindet, als es zu empfinden gibt,
nicht mehr denkt, als zu denken da ist.
Dann hat das Leiden ein Ende.

Buddha

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